THE RAKE´S PROGRESS – Berlin, Staatsoper im Schillertheater

Von Igor Strawinsky (1882–1971), Oper in drei Akten, Libretto: W. H. Auden und Chester Kallman, UA: 1951 Venedig

Regie: Krzysztof Warlikowski, Bühne/Kostüme: Małgorzata Szczęśniak, Licht: Felice Ross, Video: Denis Guéguin

Dirigent: Ingo Metzmacher, Staatskapelle Berlin, Staatsopernchor, Einstudierung: Frank Flade

Solisten: Florian Hoffmann (Tom Rakewell), Gidon Saks (Nick Shadow), Andreas Bauer (Trulove), Anna Prohaska (Anne), Birgit Remmert (Mother Goose), Nicolas Ziélinski (Baba the Turk) u.a.

Besuchte Aufführung: 10. Dezember 2010 (Premiere)

Kurzinhalt

Der junge Tom Rakewell liebt Anne, die Tochter Truloves. Er wünscht sich Reichtum, als plötzlich Nick Shadow auftaucht und Tom von einem ihm unbekannten Onkel erzählt, der ihm ein Vermögen hinterlassen habe. Er bietet ihm seine Dienste an, wünscht in einem Jahr und einem Tag dafür bezahlt zu werden und nimmt Tom mit nach London, um ihn mit den Versuchungen des Großstadtlebens vertraut zu machen. Dort heiratet Tom, um Aufsehen zu erregen, die bärtige Baba the Turk. Er bringt sein Vermögen durch, und als die Frist abgelaufen ist, verlangt Nick Shadow seinen Lohn: Toms Seele, die er dem Teufel übergeben will. Er gibt Tom eine letzte Chance, sein Leben zu behalten und spielt mit ihm ein Kartenspiel, das Tom überraschend gewinnt. Nick schlägt ihn dafür mit Wahnsinn, und Tom endet im Irrenhaus.

Aufführung

Kostüme und Bühnenbild lassen nur schwer eine bestimmte Verortung der Handlung zu. Die Szene bleibt im wesentlichen den ganzen Abend über die Gleiche: Auf einer mit Spiegeltüren versehenen Tribüne sitzt dem Publikum der Opernchor quasi als gespiegeltes Publikum gegenüber. Er tritt bereits vor Beginn der Musik bei offener Bühne auf und übernimmt im Verlaufe des Stückes seine vom Libretto geforderten Rollen der Huren, grölenden Burschen und Irren. Die Regie deutet Strawinskys Oper als ein Stück über sexuelle Identität. Etliche Transvestiten und androgyne Wesen bevölkern die Szene, und auch Nick Shadow zeigt einzelne dezidiert weibliche oder homosexuelle Züge. Die Darsteller sind – mit Ausnahme der Friedhofsszene (2. Bild, 3. Akt) – beinahe die ganze Aufführung über auch auf einer großen Leinwand und zwei Monitoren am Proszenium zu sehen. Sie werden von einem Kameramann mit einer Handkamera gefilmt. Im letzten Bild übernimmt Florian Hoffmann (Tom Rakewell) die Kamera. Stumme Figuren kommen vor. In der Versteigerungsszene (1. Bild, 3. Akt) haben z.B. Comiccharaktere wie Mickey Mouse und Spiderman einen kurzen Auftritt.

Sänger und Orchester

Strawinskys letztes neoklassizistisches Werk verlangt eine extreme rhythmische und akzentuelle Genauigkeit vom Orchester wie den Sängern, auch wenn es oft durchaus „undankbare“ Figurationen, wie z.B. schnelle Dreiklangsbrechungen in den Blechbläsern, vorzutragen gilt. Zudem erfordert die kammermusikalische Faktur des Werkes große Präzision der Wiedergabe. Diese war unter der Leitung von Ingo Metzmacher durchweg gewährleistet, und ihm gelang darüberhinaus eine farbige und z.T. sogar recht suggestive Wiedergabe der betont nüchternen Musik. Die drei Hauptpartien waren glänzend besetzt: Florian Hoffmann (Tom Rakewell) bewältigte seine lange Partie mit Bravour. Er verfügt über eine durchschlagskräftige, lyrische Tenorstimme und spielte seinen Part sehr lebendig. Nur eine Handvoll hoher Töne saß nicht hundertprozentig. Anna Prohaska (Anne) konnte in ihrem großen Monolog (3. Bild, 1. Akt) ihre technische Versiertheit zeigen. Hier kommen viele Koloraturen und große Sprünge in hohe Lagen vor, die sie mit ihrem leicht ansprechenden Organ souverän meisterte. Gidon Saks’ (Nick Shadow) Stimme hat einen sprechenden Ausdruck, d.h. er hat bei großem Stimmvolumen eine hervorragend deutliche Aussprache und eine äußerst abwechslungsreiche Tongebung. Saks dürfte über viel Erfahrung in den großen Intrigantenrollen des klassischen Repertoires verfügen, die es ihm erlaubten, hier einen ausgesprochen dämonischen Nick Shadow auf die Bühne zu stellen. Der Countertenor Nicolas Ziélinski (Baba the Turk) gab seiner Figur und seiner – im übrigen sehr beweglichen – Stimme einen weiblichen Anstrich. Enorm ist, mit welcher Kraft er seine Spitzentöne zu singen vermag.

Fazit

Musikalisch ist diese Produktion hervorragend besetzt, und die Darsteller – also auch die zahlreichen Komparsen – agieren alle höchst engagiert. Der rote Faden der Originalhandlung wird, wahrscheinlich bewußt, nicht immer befolgt. Stattdessen werden dem Publikum Bilder präsentiert, deren Aussage mitunter nicht restlos klar wird. Ist der vor der Blümchentapete sitzende Opernchor Beobachter oder Akteur? Entspinnt sich zwischen Tom und Nick eine homoerotische Beziehung? Es scheint zum Konzept der Inszenierung zu gehören, die insgesamt sehr ernsthaft daherkam,  solche Fragen offen zu lassen. Dem Publikum gefiel sie außerordentlich.

Dr. Martin Knust

Bild: Ruth Walz

Das Bild zeigt: Anna Prohaska (Anne), Florian Hoffmann Tom Rakewell)

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