The Exterminating Angel- Der Würgeengel – Kopenhagen, Königliche Oper

von Thomas Adès (*1971), Oper in drei Akten, Libretto: Tom Cairns in Zusammenarbeit mit dem Komponisten nach einem Manuskript von Luis Buñuel und Luis Alcoriza, UA: 28. Juli 2016 Salzburg

Regie: Tom Cairns, Bühne/Kostüme: Hildegard Bechtler, Licht: Tim Deiling, Video: Tal Yarden, Choreographie: Jonathan Lunn

Dirigent: Robert Houssart, Königliche dänische Hofkapelle und Chor der Oper Kopenhagen, Einstudierung: Steven Moore

Solisten: Gert Henning-Jensen (Edmundo de Nobile), Sinéad Mulhern (Lucia de Nobile), Kerstin Avemo (Leticia), Randi Stene (Leonora), Sine Bundgaard (Silvia), Hanne Fischer (Blanca), Sofie Elkjær Jensen (Beatriz), Paul Curievici (Raúl). Jens Søndergaard (Oberst Álvaro Gómez), Morten Grove Frandsen (Francisco), Alexander Sprague (Eduardo), Simon Wilding (Russel), Wyn Pencarreg (Roc), Sten Byriel (Doktor Carlos Conde) u.v.a.

(Ko-Produktion mit den Salzburger Festpielen, der Metropolitan Opera New York und dem Royal Opera House Covent Garden)

Besuchte Aufführung: 23. März 2018 (dänische Erstaufführung)

Kurzinhalt

Die Handlung spielt in den 1960er Jahren. In ihrem Anwesen in Calle de la Providencia haben Edmundo und Lucia de Nobile viele Gäste. Unter ihnen sind etliche Musiker, u.a. der Dirigent Roc, dessen Frau Blanca, eine Pianistin, und die Opernsängerin Leticia. Kurz vor dem Empfang hat beinahe das gesamte Personal eilig das Haus verlassen.

Während der Feier wird Musik dargeboten von der Pianistin Blanca, die ein Stück des Komponisten Paradiso spielt. Als auch Leticia um eine Gesangsdarbietung gebeten wird, winkt der Hausherr ab. Der Empfang zieht sich in die Länge bis in die frühen Morgenstunden und de Nobile bietet allen Gästen an, in seinem Haus zu übernachten. Das Angebot wird dankbar angenommen, und alle begeben sich an Ort und Stelle zur Ruhe.

Doch am nächsten Morgen gehen eigenartige Dinge vor sich: Die Gesellschaft stellt fest, daß niemand imstande ist, das Zimmer zu verlassen. Auch von außen vermag niemand hereinzukommen. Nach mehreren Wochen macht sich unter den Eingeschlossen eine zunehmende physische und moralische Verkommenheit bemerkbar. Der Oberst Álvaro Gómez versucht z.B. Leticia zu vergewaltigen und die Leichen der Verstorbenen stapeln sich im Zimmer. Kurz bevor man beginnt, sich gegenseitig umzubringen, hat Leticia die rettende Idee: man stellt den Abend des Empfangs wieder nach mit denselben Dialogen und dem Musikstück, das dargeboten wurde. Sie singt eine Arie und der Zauber ist gebrochen.

Aufführung

Noch während das Publikum die Plätze einnimmt, beginnt die Handlung. Glockengeläut begleitet zwei Schäfer und drei (echte!) Schafe auf der Bühne. Die Sänger tragen eine festliche Abendgarderobe. Trotz des Einsatzes von Videos, Schleiern, Drehbühne und weiteren technischen Finessen bleibt die Szenengestaltung abstrakt. Es ist oft viel Bewegung auf der Bühne und die zahlreichen Aktionen werden sicher gespielt. Beleuchtung, Personenregie, Choreographie und Effekte sind minutiös auf die Musik abgestimmt.

Sänger und Orchester

Das Publikum wurde vor Vorstellungsbeginn darüber informiert, daß Sinéad Mulhern (Lucia de Nobile) und Wyn Pencarreg (Roc) kurzfristig für zwei erkrankte Sänger der Kopenhagener Oper einspringen mußten. Das hätte man ohne diese Information so nicht bemerkt, so sicher trugen beide ihre Parts vor, sowohl musikalisch als auch darstellerisch.

Es ist schwer, unter den zahlreichen Charakteren, die die Bühne in diesem Stück bevölkern, die Hauptfiguren auszumachen. Edmundo de Nobile, gesungen von Gert Henning-Jensen, ist eine davon. Er hat einen lyrischen Tenor mit einer durchdringenden Spitze in den hohen Lagen, die er bei den massiven Orchesterpassagen, die ihn begleiten, auch benötigt. Stimmlich sticht der Countertenor Morten Grove Frandsen (Francisco) heraus. Darstellerisch ist der Charakter des Doktor Carlos Conde, gespielt und gesungen von Sten Byriel, ein Ruhepunkt. Er verkörpert die Stimme der Rationalität inmitten des Wahnsinns, der sich schleichend in der eingeschlossenen Gesellschaft breitmacht. Bei ihm kommt es weniger auf ein großes stimmliches Volumen denn auf eine deutliche Aussprache und besonnenes Spiel an.

Das Zusammenspiel der übrigen Sänger war szenisch ausgezeichnet, und auch musikalisch bewältigten sie ihre Partien ohne erkennbare Schwierigkeiten. Es gibt etliche Szenen – vor allem zu Beginn und Schluß des ersten Aktes –, in denen sämtliche Charaktere gleichzeitig zu singen und zu agieren haben. Nur ein einziges Duett kommt vor, nämlich das der beiden Verlobten Beatriz und Eduardo vor ihrem gemeinsamen Selbstmord im dritten Akt, nackt dargeboten von Sofie Elkjær Jensen und Alexander Sprague.

Und jetzt zu Kerstin Avemo in der Rolle der Opernsängerin Leticia. Es handelt sich hierbei musikalisch um die unmenschlichste Partie, die mir als Rezensent jemals untergekommen ist. Die Tessitura dieser Rolle liegt streng genommen jenseits des Soprans. Fast alle ihre kurzen Einwürfe und vor allem ihre recht lange Arie am Ende liegen extrem hoch, weit in der dreigestrichenen Oktave, und sind kräftig zu singen. Die Töne können nur im sogenannten Pfeifregister, das noch über der weiblichen Kopfstimme liegt, erreicht werden. Jeder einzelne Ton ist hier ein Wagnis, und die Souveränität und Energie, mit der Kerstin Avemo diesen akrobatischen Part sang, war schlicht und einfach atemberaubend.

Das gilt nicht minder für das, was die Königlich dänische Hofkapelle an diesem Abend unter Robert Houssart leistete. Adès’ Orchesterpart ist unglaublich filigran instrumentiert. Neben einem stark erweiterten Schlagwerk kommen elektronische und elektronisch verstärkte Instrumente sowie außerdem im ersten Akt ein Fernorchester zum Einsatz. Die dynamisch oft scharf kontrastierenden Klangfelder im Orchester waren sauber ausbalanciert. Man bekam runde, nicht selten spätromantisch satte Klänge zu hören. Auch das Zusammenspiel mit der Bühne war im Gleichgewicht mit Ausnahme von Beginn und Ende der Oper, in der Solisten und Chor schrill klangen. Doch ist das möglicherweise sogar so gewollt.

Fazit

Man sollte sich von der surrealen Handlung nicht abschrecken lassen. Diese Oper bietet neben ergreifenden und musikalisch umwerfenden Momenten auch eine ordentliche Prise Humor, die in dieser Inszenierung gut zur Geltung kam.

Adès Musik ist eingängig und voll von schönen Details. Was an diesem Abend wirklich begeistert, ist die Inszenierung. Tom Cairns, der nicht nur die Regie führt, sondern auch das Libretto zur Oper geschrieben hat, setzt auf Klarheit in der Personenregie und hat keine Scheu davor, das Publikum mit starken Bildern zu überwältigen. Musik, Text und szenische Gestaltung sind hier aus einem Guß. Wenn man sich einen Eindruck davon verschaffen will, zu welch großartigen Leistungen die altehrwürdige Gattung Oper auch noch im frühen 21. Jahrhundert imstande ist, sollte man sich dieses Werk nicht entgehen lassen.

Dr. Martin Knust

Bild: Camilla Winther

Das Bild zeigt: Schlussarie der Leticia am Ende des dritten Aktes.  Kerstin Avemo (Leticia) in Aktion mit den Überlebenden.

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