IL TRIONFO DEL TEMPO E DEL DISINGANNO – DER TRIUMPH VON ZEIT UND VERGNÜGEN – Berlin, Staatsoper im Schillertheater

von Georg Friedrich Händel (1653–1730)

Oratorium in zwei Teilen, Libretto: Benedetto Pamphili, ursprünglich ein Oratorium, hier szenisch gegeben, in Italienisch

UA: Mai 1707 Rom, Collegio Clementino

Regie: Jürgen Flimm/Gudrun Hartmann, Kostüme: Florence von Gerkan, Bühne: Erich Wonder, Dramaturgie: Ronny Dietrich/Detlef Giese, Licht: Martin Gebhardt

Dirigent: Marc Minkowski, Les musiciens du Louvre

Solisten: Sylvia Schwartz (Bellezza-Schönheit), Delphine Galou (Disinganno-Erkenntnis), Charles Workman (Tempo-Zeit), Inga Kalna (Piacere-Vergnügen)

Besuchte Aufführung: 15. Januar 2012 (Premiere)

Kurzinhalt

Vier allegorische Figuren erörtern menschliche Existenzfragen. Dabei soll die Schönheit (Bellazza) von ihrer Vergänglichkeit überzeugt werden, und das Vergnügen (Piacere) verlangt von ihr Treue, um nicht dem gleichen Schicksal ausgesetzt zu sein. Zeit (Tempo) und Enttäuschung (Disinganno) als Vertreter der Wahrheit beeinflussen Bellazza. Sie zweifelt an ihrem Aussehen, will sich an einsame Orte zurückziehen und wendet sich mit ihrer Klage an himmlische Wesen.

Aufführung

Eine tief in die Bühne hineinlaufende, in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörende Bar ist Gaststätte und Raum der Begegnung für Gruppen unterschiedlichen Alters und gesellschaftlicher Zugehörigkeit: Alte, Kinder, Kellner, Hochzeitspaare, Tanzende, Models und Behinderte kommen und gehen. Vom festlichen Kleid über den Matrosenanzug, von der barocken Kostümierung bis zum abgewetzten Mantel eines gerupften Engels – Florence von Gerkan sorgt mit den Kostümen für eine vom Alltag abgehobene Stimmung.

Auf der linken Seite der Bühne stehen gedeckte Tische, gegenüber befindet sich die Theke. Immer wieder nehmen Gestalten Platz, die viel trinken und durch ihre stummen und vorüberziehenden Begegnungen Zeit- und Beziehungslosigkeit erzeugen. Im Gegensatz dazu friert bisweilen jegliche Bewegung ein, scheint die Zeit stillzustehen. Viele Details werden – vergleichbar mit dem Da-capo-Prinzip der Arien – im zweiten Teil wiederholt und begleiten die Inszenierung assoziativ: so reißt die Zeit einer Puppe die Gliedmaßen aus, treten im Winter des Lebens verschneite Männer in die Bar, läßt Tempo den Sand durch die Finger rinnen. Das Vergnügen tanzt, die Zukunft tritt in Gestalt von vier Nonnen seitlich in den Raum, der sich selbst zerstörende Mensch als Drogendealer. Händel selbst erscheint als Orgelspieler. Bellazzas Verwandlung zur Nonne findet im Vordergrund der sich leerenden Bar statt, in der am Schluß die Tischtücher von den Tischen gerissen werden.

Sänger und Orchester

Das Oratorium wird von den Musiciens du Louvre und ihrem Dirigenten feinsinnig gestaltet. So unterstützen sie die Sänger leise und sind als Träger des emotionalen Gehaltes des Werkes beeindruckend.

Sylvia Schwartz (Bellezza) entwickelt ihre stimmlichen Möglichkeiten erst im zweiten Teil. Mit der Schlußarie Pure del cielo intelligenze eterne – reine und ewige Wesen des Himmels kann sie zusammen mit dem durchsichtigen Violonsolo mit einer von unendlicher Spannung getragenen und im piano gehaltenen stimmlichen Konzentration begeistern. Delphine Galou (Disinganno) mit ihrem androgynen Alt ist eine musikalisch und von ihrer Erscheinung her passende Gegenspielerin zu Inga Kalna (Piacere) mit ihrem warmen Sopran. Beifall erhielt sie für die Arie Crede l’uom ch’egli risposi Der Mensch glaubt, daß die Zeit schläft sowie für ihr Duett mit Charles Workman Il bel pianto dell’aurora- Die schönen Tränen der Morgenröte.

Charles Workman (Tempo) verkörpert die erbarmungslose Zeit mit seinem manchmal hart wirkenden Tenor. Den eindrücklichen Text der Arie Nasce l’uomo, ma nasce bambino – Geboren wird der Mensch, jedoch als Kind interpretierte er überzeugend. Inga Kalna als ein rotgelocktes Energiebündel singt ihre mit weiten ausladenden Koloraturen gespickte Partie mit verblüffender Flexibilität. Als einen besonderen Höhepunkt im zweiten Teil gestaltet sie die wunderbare Arie Lascia la spina cogli la rosa – Laß die Dornen, pflücke die Rose mit einem geradezu sphärisch wirkenden Piano als ruhig strömende Kantilene.

Fazit

Die vom erst 21jährigen Händel realisierte kompositorische Menschenkenntnis ist nicht nur verblüffend, sondern hat dazu noch Aktualität. Die Aufführung bietet trotz oder gerade wegen der vielseitigen Komparserie Raum für Resonanz und für das Nachdenken über menschliche Werte. Das Barockensemble und die vier Solisten legen eine musikalische Perle auf die Bühne. Am Ende verlangte das begeisterte Publikum mehrere Vorhänge, es gab Beifall für Marc Minkowski und sein brillantes Ensemble, Bravorufe für die Sänger und ab und zu ein Buh für den Regisseur.

Carola Jakubowski

Bild: Hermann und Clärchen Baus

Das Bild zeigt: Delphine Galou (Disinganno), Sylvia Schwartz (Bellezza), Charles Workman (Tempo) (v.l.n.r.)

Veröffentlicht unter Berlin, Staatsoper im Schillertheater, Opern