Kölner Philharmonie – Der Pianist Grigori Sokolov

Programm: (Robert Schumann (1810-1856): Arabeske C-Dur Op. 18, Fantasie C-Dur Op. 17

Frédéric Chopin (1810-1849): Zwei Nocturnes Op. 32, Sonate b-Moll Op. 35

Besuchtes Konzert: 31. Mai 2016

Köln SokolovVorbemerkung

Am 31. Mai war es wieder einmal soweit: Grigori Sokolov (*1950) gastierte in Köln. Der legendäre Status, den er mittlerweile in der Musikwelt genießt, schlug sich deutlich im Besucherandrang nieder: Die Philharmonie war bis zum „Geht-nicht-mehr“ gefüllt, selbst die Balkone hinter der Bühne waren vollbesetzt!

Das Konzert begann mit leichter Verspätung und schon beim Auftreten des Künstlers wurde deutlich, daß hier eine unabhängige, starke Persönlichkeit mit einer sehr eigenen inneren Welt, die mit der äußeren wenig zu tun zu haben scheint, die Bühne betrat. Fast jeder Musiker zeigt eine gewisse Beschwingtheit, wenn er sich aus der Privatheit des Künstlerzimmers hinaus in den Beifall des Publikums begibt. Nicht so Grigori Sokolov: gemessenen Schrittes durchquert er den gar nicht kurzen Weg zwischen Künstlerzimmer und Flügel, verneigt sich kurz, setzt sich an den Flügel und spielt.

Dieses Procedere ist nach jedem Beifall gleich – mit einer Ausnahme, die gleich zur Sprache kommt. Sokolov verneigt sich in genau bemessener Weise und verläßt die Bühne gemäßigten Tempos mit jenen perfekt abgezirkelten Schritten, die in keiner Weise den donnernden Applaus des vollen Hauses widerspiegeln. Nur einmal gibt es eine Störung der Keplerschen Gesetzen dieses Weges: am Ende des Konzerts, als die unvermeidlichen Blumen gebracht werden und der Künstler fast schon irritiert mitten im Schritte innehält. Hier, eine erneute Verbeugung, und er eilt, etwa fünf Schritten hinter der Blumenbringerin (ihr den Strauß fast hinterhertragend) mit gering beschleunigtem Gang aus dem Saal hinaus.

Das Programm

Zu hören war ein klassisches Programm mit Werken aus der Romantik, die alle dem Zeitraum von 1835 bis 1840 entstammen. In der ersten Konzerthälfte spielte der Pianist Robert Schumanns Arabeske C-Dur und die Fantasie C-Dur, in der zweiten Konzerthälfte Chopins zwei Nocturnes Op. 32 und die Sonate b-Moll.

Die beiden Hauptwerke des Abends (Schumanns Fantasie und Chopins Sonate) nehmen dabei, mal offenkundiger, mal versteckter, immer wieder Bezug auf Ludwig van Beethoven. Beide sind aber auch Reaktionen auf schwere seelische Belastungen der Komponisten, künstlerische Verarbeitungen existentieller Krisen.

Bei Schumann waren es die eifersüchtigen Intrigen von Claras Vater Friedrich Wieck, der seine hochbegabte Tochter nicht an Robert verlieren mochte. Im Sommer 1836 diktierte Wieck Clara einen Abschiedsbrief an Schumann, mit dem sie ihm sämtliche seiner Briefe und gewidmeten Werke zurückschickte. Für den noch jungen, gerade 26 Jahre alten Komponisten war das eine furchtbare persönliche Katastrophe, die ihn an den Rand des Wahnsinns trieb. Er hatte bereits manche Krise überwunden, etwa als er wenige Jahre vorher durch eine selbstverschuldete Handverletzung die heiß angestrebte Karriere zum Klaviervirtuosen aufgeben mußte.

Äußerer Anlaß zur Komposition der Fantasie war jedoch ein Spendenaufruf von Franz Liszt im Jahr 1835 für das geplante Beethovendenkmal in Bonn, das 1836 enthüllt werden sollte. Schumann wollte dafür ein großes Klavierwerk beisteuern und den Erlös aus dem Verkauf spenden. Durch das Beethoven-Zitat am Ende des ersten Satzes So nimm sie hin denn, diese Lieder aus dem Liederzyklus An die ferne Geliebte, verwob Schumann den Bezug auf Beethoven wie auch auf Clara. Aus diesem Zitat sind alle Themen des ersten Satzes abgeleitet. Das Werk erschien schließlich, nach mehreren Überarbeitungen, im April 1839 als das Beethovendenkmal längst fertig war.

Im Sommer desselben Jahres veröffentlichte Chopin seine zweite Klaviersonate in b-Moll Op. 35. Auch hier hatte sich die Entstehung über etliche Jahre hingezogen. Der berühmte Trauermarsch war bereits 1837 entstanden, im selben Jahr, als Chopins Verlobung mit Maria Wodzińska (1819-1896) einseitig von dieser gelöst wurde. Die anderen drei Sätze wurden 1838/39 geschrieben. In diese Zeit fällt Chopins „Winterurlaub“ auf Mallorca mit George Sand, wo seine Tuberkulose voll zum Ausbruch kam.

Kurz vor der Abreise von Palma de Mallorca erlitt er einen lebensgefährlichen Blutsturz. Die ganze Überfahrt (auf einem Schweinefrachter!) nach Barcelona spuckte er weiter Blut und brauchte Monate, um wieder einigermaßen zu genesen.

Das kurze im Unisono und in kaum faßbarer (oder hörbarer) Tonalität dahinhuschende Finale der Sonate, das an radikaler Modernität im ganzen 19. Jahrhundert seinesgleichen sucht, ist kaum anders zu erklären als ein Versuch, das drohende, für Chopin fast zur Realität gewordene Nichts der Existenzauslöschung in Töne zu fassen.

Diesen äußerst gewichtigen Werken schickte Grigori Sokolov Stücke kleineren Formats voraus.

Schumanns Arabeske entstand bei dessen Aufenthalt in Wien vom 3. Oktober.1838 bis 5. April 1839. Beruflich konnte er dort zwar nicht Fuß fassen, doch bescherte er der Musikwelt neben dem Faschingsschwank aus Wien Op. 26 und der Humoreske Op. 20 auch die kleineren Stücke Arabeske Op. 18 und Blumenstück Op. 19. Außerdem entdeckte Schumann das Manuskript von Schuberts großer C-Dur Symphonie bei dessen Bruder Ferdinand.

Chopins beide Nocturnes Op. 32 in H-Dur und As-Dur stehen in querem Tonartenverhältnis zueinander, nämlich der kleinen Terz (bzw. übermäßigen Sekunde).

Wie in vielen seiner Werke entfaltet er dort den Zauber des italienischen Belcantos, scheut jedoch auch vor opernmäßiger Dramatik nicht zurück. Am Ende des H-Dur Nocturne etwa erschüttert er den bereits sich zu seinem Höhepunkt aufgeschwungenen Satz durch einen Rezitativteil, der – in kleinem Rahmen und engstem Raum – all die Melodienseligkeit von davor in Frage stellt.

Das Drama der starken Persönlichkeit

Bei solch einem Programm ist nicht nur für ausreichende Abwechslung, sondern auch für Dramatik auf der Bühne gesorgt. Das erschütternde Flehen und trotzige Aufbegehren der Arabeske in ihren Zwischenabschnitten und ihr gelöstes Fließen im Hauptteil, der gequälte Aufschrei am Beginn der C-Dur Fantasie, die konsequente Negierung von allem was schön und gut ist im Finale der b-Moll Sonate, das alles brachte Grigori Sokolov mit größter Intensität und ungeheurer Konzentration auf die Bühne.

Das Publikum kam voll auf seine Kosten und belohnte den großen Künstler mit frenetischem Applaus und Ovationen. Daß ein Gutteil dieses Publikums die Werke nicht gut genug kannte um zu erkennen, daß die C-Dur Fantasie nach dem ersten Satz noch nicht zu Ende ist und den Übergang zum zweiten Satz durch ebensolchen begeisterten Applaus störte, ärgerte Sokolov zwar sichtlich (und am Beginn des Marsches dann auch deutlich hörbar!), aber wer mag einem so enthusiastischen Publikum schon ewig böse sein? Daß dieser Zwischenfall ein uraltes Drama wiedergibt, sei hier den Worten des Pianisten und Komponisten Franz Liszt überlassen: So begehrt die große Welt in der That von Poesie und Kunst nichts weiter als Aufregungen, die wenige Minuten währen, die sich im Laufe eines Abends erschöpfen und am anderen Morgen vergessen sind.

Der Pianist strafte seine Zuhörerschaft nicht und gewährte ihm – ohne sich lange bitten zu lassen – seine sechs obligaten Zugaben: fünf Moments Musicaux von Franz Schubert und eine Mazurka von Chopin.

Der äußere Erfolg war durchschlagend, der Pianist konnte nicht nur sein immenses Ausdrucksvermögen, sondern auch seine fantastische Technik zeigen, die ihn selbst in raschen und unerhört schwierigen Passagen nie den klanglichen oder musikalischen Überblick verlieren ließ. Nichts bewies sein Können in dieser Hinsicht so eindrucksvoll wie die Coda des Marsches der C-Dur Fantasie. Schumann komponierte dort ein Stück Klaviermusikutopie: rasche Sprünge mit massiven Akkorden, die auch noch eine melodische Linie ergeben, in beschleunigtem Tempo. Selbst einem Horowitz geriet diese Passage schon einmal daneben, bei Sokolov dagegen explodierte das Klavier genau in jener magischen Einheit von Klang- und Emotionsüberschwang, wie sie Schumann wohl vorgeschwebt haben mochte. Dies gelingt nur einem Künstler, der bereits im Alter von 16 Jahren – er gewann damals den Tschaikowsky-Wettbewerb – über eine voll ausgebildete Technik verfügt haben muß.

Und trotzdem, jenseits dieses sichtbaren, äußerlichen Erfolges, spielte sich auf der Bühne ein subtiles Drama ab: Sokolovs Interpretationen blieben deutlich unter seinen Möglichkeiten, trotz immenser klanglicher und musikalischer Fähigkeiten, obwohl er die Stücke natürlich genau kannte, sie kunstreich deutete und in überwältigender Präsenz und tiefer geistiger Konzentration darbot.

Er konzentrierte sich zu sehr und zu ausschließlich auf die Ober- bzw. Melodiestimme. Auf dem Niveau, auf dem Sokolov spielt, musiziert und interpretiert, zog das weitreichende Folgen nach sich.

Indem er klanglich den Baß vernachlässigte, verunklarte er einerseits die Harmonie und beschnitt zugleich das Ausdrucksvermögen der Oberstimme. Dies wiederum verführte ihn zu einer Intensitätssteigerung in derselben, was klangliche Übersteuerung nach sich zog und ihm ein Maßhalten in musikalischen Steigerungen verwehrte. Oft verschoß er sein Pulver zu früh, und eine weitere Steigerung bis zum Höhepunkt war nur noch mit Gewalt möglich.

Ein Nebeneffekt dieser Oberstimmenlastigkeit war bei Sokolov die Neigung zu überindividualisierten Rubati (Tempoverlangsamungen). Es ist ein Wunder, daß er trotzdem den inneren musikalischen Faden nicht verlor, das Publikum trotzdem in seinen Bann ziehen konnte, und es nicht langweilte. Dies ist nur seiner phänomenalen Konzentrations- und Versenkungsfähigkeit gedankt, mit anderen Worten: seiner starken musikalischen Persönlichkeit. Genau sie ist es jedoch auch, die ihm ein gelöstes, organisches, das Wesentliche der Struktur eines Werkes (und damit auch seines Inhalts) wiedergebendes interpretierendes Musizieren so schwer macht.

Es gab aber auch Highlights in diesem Konzert: neben der schon erwähnten Coda des Marsches aus der Schumann-Fantasie gehörte dazu das Finale der b-Moll Sonate, das Sokolov mit makelloser Schlichtheit wiedergab, in halbem Non-legato, das auch im Presto noch die Zwischenräume zwischen den Tönen deutlich machte und damit die ganze Abgründigkeit und den Schrecken dieses Satzes vermittelte. Dazu gehörte auch das vierte Stück aus den Moments Musicaux von Schubert, dessen Hauptteil Sokolov in Bachscher Sachlichkeit spielte, auch wieder leicht non legato, mit abgründig getupftem Baß.

Diese Stellen zeigten nicht nur sein ganzes spieltechnisches, sondern auch sein interpretatorisches Können. Es waren jene Momente, in denen er sich als Gestalter der Musik völlig zurücknahm und dem musikalischen Fluß seinen freien Lauf ließ. Sokolovs Können und seine Persönlichkeit sind groß genug, um sich diese Zurücknahme leisten zu können. Leider war dies an diesem Abend allzu selten der Fall.

Philipp Kronbichler

Bild: Wikipedia

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