Der Ring des Nibelungen – Berlin, Staatsoper unter den Linden, Abschlußbericht

 

von Richard Wagner (1813-1883), Bühnenfestspiel in drei Tagen und einem Vorabend, Libretto: R. Wagner, UA: 1876 Bayreuth, Festspielhaus

Regie/Bühne: Dmitri Tcherniakov, Kostüme: Elena Zaytseva, Licht: Gleb Filshtinsky, Video: Alexey Poluboyarinov, Dramaturgie: Tatiana Werestchagina und Christoph Lang

Dirigent: Christian Thielemann, Staatskapelle Berlin, Staatsopernchor Berlin, Einstudierung: Martin Wright

Solisten: Michael Volle (Wotan; Wanderer), Anja Kampe (Brünnhilde), Andreas Schager (Siegfried), Robert Watson (Siegmund), Lauri Vasar (Donner; Gunther), Johannes Martin Kränzle (Alberich), Mika Kares (Fasolt; Hunding; Hagen), Mandy Fredrich (Gutrune), Violeta Urmana (Waltraute in Götterdämmerung), Nora Beinart (erste Norn), Kristina Stanek (zweite Norn), Anna Samuil (dritte Norn), Evelin Novak (Woglinde), Natalia Skrycka (Wellgunde), Anna Lapkovskaja (Floßhilde), Victoria Randem (Waldvogel), Vida Miknevičiūtė (Sieglinde; Freia), Claudia Mahnke (Fricka), Peter Rose (Fafner), Anna Kissjudit (Erda), Siyabonga Maqungo (Froh), Rolando Villazón (Loge), Stephan Rügamer (Mime) u.v.a.

Besuchte Aufführungen: 2., 3., 6. und 9. Oktober 2022 (Premieren)

Inszenierung

Derzeit gehört Wagners Ring des Nibelungen zu den am häufigsten neu inszenierten Werken. Erst im vorigen Jahr wurde ein neuer vollständiger Ring in der Inszenierung Stefan Herheims an der Deutschen Oper Berlin Premiere (wir berichteten darüber in OPERAPOINT 2021, 4, 39–43) und mit der Inszenierung des russischen Teams um Dmitri Tcherniakov hat somit das zweite große Haus in der Hauptstadt eine neue Ring-Inszenierung bekommen, die die alte von Guy Cassiers ablöst (s. OPERAPOINT 2022, 3, 27 f.). Der Fairneß halber ist einleitend anzufügen, daß der Dirigent der Premieren, die alle innerhalb einer Woche stattfanden, Christian Thielemann sehr kurzfristig, nur wenige Tage vor den Generalproben, für den erkrankten GMD der Staatsoper Berlin Daniel Barenboim eingesprungen ist. Auch bei den Sängerinnen der kleineren Rollen kam es zu ein paar kurzfristigen Besetzungsänderungen. Daß dieses Vorhaben, vier schwere Werke, in denen dieselben Sänger auftreten, innerhalb kurzer Zeit und bei regulär laufendem Spielbetrieb Premiere haben zu lassen ausgesprochen kühn ist, versteht sich von selbst.

Tcherniakovs Produktion verpflanzt die mythologische Handlung des Rings in eine andere Zeit und eine andere Umgebung und hält sich nur recht lose an die Wagnersche Vorlage, was Schauplätze und Requisiten angeht. Wotans Speer ist nur einmal zu sehen und wird nicht von Siegfried zerschlagen, Nothung taucht nur sehr gelegentlich auf und selbst der Ring des Nibelungen ist nur sehr selten zu sehen. Etliche Unklarheiten der Handlung bleiben auch nach vier Abenden bestehen, und es gibt jede Menge ironischer Kommentare (s. Einzelrezensionen). Das alles kann man ablehnen, und tatsächlich empfand ein Teil des Publikums die Inszenierung auch als visuell monoton, humorlos und uninspiriert.

Dennoch soll im folgenden der Versuch gemacht werden, einen Überblick über die gesamte Produktion mitsamt ihrer Schwächen und Stärken – denn auch solche hat sie – zu geben.

Zunächst zur Handlung, oder vielmehr: zu den Versatzstücken der Handlung. Es wird – wie in Wagners Vorlage – ein großer zeitlicher Bogen von etwa einem halben Jahrhundert gespannt. Wir befinden uns in einem obskuren Institut mit der Abkürzung E.S.C.H.E., die für „Experimental Scientific Center for Human Evolution“ steht. Hier werden also Experimente mit Menschen durchgeführt. Doch handelt es sich weniger um Studien zur Evolution, sondern um Versuche zum menschlichen Verhalten. Es gibt Schlaf- und Streßlabor, psychologische Tests mit Probanden, eine geschlossene Abteilung in der Fafner einsitzt und anderes. Die Probanden oder Insassen dieser Anstalt sind allesamt verhaltensauffällig: Fafner ist ein Kannibale und Mörder, Siegfried ist gewalttätig und impulsgesteuert, der Alberich (oder die beiden Alberiche?) im Rheingold ebenfalls, Brünnhilde in der Götterdämmerung augenscheinlich depressiv und auch innerhalb der Verwaltung und im Personal gibt es merkwürdige Charaktere wie den hyperaktiven Loge, die empathielosen Nornen oder den angst- und haßerfüllten Mime. Wie man sieht, sind diese Figuren zwar nicht identisch mit Wagners und doch stark von ihnen geprägt.

Das Institut ist der in sich abgeschlossene Kosmos, in dem sich bis auf das leere Schlußbild, in dem Brünnhilde den Vorhang zuzieht, die gesamte Handlung abspielt. Sein Grundriß wird auf den Vorhang projiziert und die Figuren laufen wieder und wieder durch die verschiedenen Räume, Säle und Hallen, die eng, farblich eintönig und klaustrophobisch sind. Wie so häufig bei Wagnerinszenierungen ist das Bühnenbild sehr dunkel und die nackte Szene, die ebenfalls schon ein feststehendes, etwas abgenutztes Stilmittel im modernen Regietheater geworden ist, ist ebenfalls in drei von vier Dramen dieser Produktion zu sehen. So gesehen ist sie für eine heutige Wagnerproduktion typisch. Untypisch ist das Fehlen des Bühnennebels, der seit der Uraufführung 1876 zu einem Charakteristikum wenn nicht sogar Markenzeichen der meisten Wagnerinszenierungen geworden ist. Der Nebel schafft weiche Konturen und läßt der Phantasie der Zuschauer einen gewissen Spielraum. Er kann auch, wie Nietzsche schon kritisierte, Unklarheiten zudecken. Hier war das Bühnenbild hingegen hart und klar. Und dennoch gab es jede Menge Spielraum zum Ausdeuten.

Das liegt an der, wie bereits erwähnt, segmentierter Handlung, die in Versatzstücken aufgebaut ist. D.h. man kann als Zuschauer, wenn man denn will, etliche lose Episoden selber zu einem Handlungsfaden zusammenfügen. Da wäre beispielsweise die Frage, ob Hagen von der gequälten Versuchsperson oder dem bösen Vorarbeiter im Rheingold abstammt, der seinen Haß auf die Institutsleitung an seinen Sohn vererbt. Oder ob der Siegfried der Götterdämmerung identisch mit dem Kind ist, das in Siegfried mehr oder weniger unter Beobachtung Wotans im Institut aufwächst. Einige dieser Handlungsfragmente lassen durchaus interessante Kombinationen zu, die ihrerseits die Wagner’sche Vorlage kommentieren.

Die Figuren in dieser Inszenierung verhalten sich durchweg wie ganz normale Menschen. Es wird zur Arbeit gegangen, gegessen, getrunken und viel geraucht. Nun ist die „Übersetzung“ eines erhabenen mythischen oder heroischen Stoffes in den banalen Alltag schon seit jeher ein zentrales Mittel der Parodie gewesen; man denke hier etwa an Jacques Offenbachs Version des antiken Orpheusmythos (s. die vorige Nummer von OPERAPOINT). Doch Tcherniakovs Version des Rings ist keine Parodie von Wagners Werk. Ganz im Gegenteil: Trotz der humoristischen Momente, in denen die Gebärden der Figuren das Gesagte konterkarieren oder unterlaufen, bricht diese Interpretation die Charaktere nicht und erzählt eine sehr ernste, oft düstere Handlung. Dies geschieht wie gesagt vor allem durch die (Inter-)Aktionen der Darsteller. Die Personenregie ist in den einzelnen Szenen schlüssig und nachvollziehbar, und sie verleiht der kraftvollen Musik des Orchesters Glaubwürdigkeit, da vieles von dem, was gesungen wird, nicht gezeigt wird, kurz: Sie führt dazu, daß die Musik nicht illustrierend, sondern psychologisierend wirkt, daß sie das, worüber gesungen und was nicht zu sehen ist, sinnfällig macht. Die Regie macht sich also nicht über die Musik lustig, sondern weist ihr eine zentrale dramaturgische Funktion zu. Ein solches Verfahren verlangt natürlich eminent gute Schauspieler, von denen diese Inszenierung einige zu bieten hatte.

Wer spektakuläre Bilder sehen wollte, wurde enttäuscht, und das restlos. Zwar befindet sich ein Videospezialist im Regieteam, doch werden Videos, entgegen modernen Gepflogenheiten, nur überaus sparsam eingesetzt. Sie beschränken sich im wesentlichen auf kurze Einspielfilme zu Beginn von Rheingold, Walküre und Siegfried. Es gibt keine Animationen im Hintergrund, keine Götterburg mit Regenbogen, keinen Feuerzauber, keine Verwandlung in Riesenwurm und Kröte, keinen Wald mit Vogel und die Walküren sitzen ruhig im Halbkreis im Hörsaal während sie über ihre Pferde und die gefallenen Helden scherzen. Grane ist ein Kuscheltier, das der infantile Siegfried mit zur Arbeit nimmt. In dieser Hinsicht hat die Inszenierung nichts zu bieten. Was sie hingegen schafft, jedenfalls für einen Teil des Publikums, sind ergreifende und erschütternde Momente menschlicher Kommunikation und Grausamkeit. Es geht dabei weniger darum, große moralische Fragen oder eine geschlossene Botschaft zu formulieren und sie dem Werk überzustülpen, sondern eher um die episodische Darstellung spannungsgeladener Auseinandersetzungen, Begegnungen und Widersprüche zwischen den Figuren, wobei das Ganze in einem großen epischen Rahmen eingespannt wird. Der Inszenierung haftet nichts Tagespolitisches oder vordergründig Gesellschaftskritisches an, wie in vielen anderen zeitgenössischen Produktionen. Die Kostüme und Symbole, der sie sich bedient, tragen zwar zu Beginn russisches oder (post-)sowjetisches Gepräge, die gezeigten Handlungen sind aber ohne weiteres verallgemeinerbar.

Damit soll nicht gesagt sein, daß die Personenregie sich von überkommenen Klischees und Stereotypen gänzlich freihalten zu vermag oder alles rundum gelungen sei. Es gibt, mitunter recht vorhersehbar, viel männliche Gewalt und weibliches Erdulden männlicher Gewalt. Es gibt Momente größter psychologischer Intensität, etwa am Ende des ersten und Beginn des zweiten Aufzugs von Götterdämmerung. Und es gibt recht nichtssagende lange Strecken wie die Todesverkündigung in der Walküre oder die letzte Szene von Siegfried. Was die Inszenierung aber konsequent vermeidet, ist die Entwürdigung der Figuren. Anzüglichkeiten und den Sängern unangenehme Aktionen werden vermieden. Was bleibt, ist der Eindruck von Natürlichkeit im darstellerischen Spiel und von einer durch unsichtbare Zwänge zusammengehaltenen, dystopischen Welt, einer Welt, die derjenigen gleicht, die Wagner schildert.

Sänger und Orchester

Bevor die musikalischen Leistungen um Zusammenhang gewürdigt werden, ist noch auf ein nicht unerhebliches Detail der Besetzung hinzuweisen. Christian Thielemanns Einsatz bei der Premiere wurde während der Aufführungen ausführlich diskutiert. Wie bekannt, hat er derzeit kein festes Engagement an einem Haus. Bei der Premierenfeier berichtete Thielemann selbst von einem Anruf Daniel Barenboims, der ihn gebeten habe, kurzfristig für ihn zu übernehmen. Bislang hat er aus unterschiedlichen Gründen noch nicht mit der Staatskapelle Berlin zusammengearbeitet, obwohl er an namhaften Orchestern in der ganzen Republik engagiert war und auch oft bei den Bayreuther Gastspielen dirigiert hat. Er gilt als einer der führenden Wagnerspezialisten und hat bis auf die ersten drei frühen Opern sämtliche Dramen und Opern Wagners in seinem Repertoire. Viele im Publikum wie auch viele Rezensenten sehen ihn als einen aussichtsreichen Kandidaten für die Nachfolge Daniel Barenboims, und angesichts seines Alters – im November wird Barenboim 80 Jahre alt –, dürfte sich die Frage der Nachfolge auch in absehbarer Zeit stellen. Damit würde eine ein Vierteljahrhundert währende Ära zu Ende gehen. Dieser kulturpolitische Hintergrund trug zu einem nicht geringen Teil zu der außergewöhnlichen Premierenspannung dieser vier Abende bei und das Publikum scheint seine Entscheidung bereits gefällt zu haben: Für den Dirigenten – wohl auch stellvertretend für die hervorragende Staatskapelle Berlin – gab es vom Rheingold angefangen stehende Ovationen. Betrachten wir nun summarisch die Sänger dieser Inszenierung. Unter ihnen sind, wie erwähnt, hervorragende Darsteller. An erster Stelle sind hier Michael Volle (Wotan; Wanderer), Vida Miknevičiūtė (Sieglinde; Freia) und Johannes Martin Kränzle (Alberich) zu nennen. Ihre Beweglichkeit, Wandlungsfähigkeit und mimische Eindringlichkeit ist außergewöhnlich. Sehr gute Musiker sind sie außerdem. Ihre musikalisch-darstellerischen Doppelbegabungen machen sie zu idealen Besetzungen von Wagners Rollen, der sich für seinen Ring Schauspieler, die singen können, wünschte. Die neben Wotans Partie umfangreichsten Parts haben Anja Kampe (Brünnhilde) und Andreas Schager (Siegfried) zu singen. Schager gewann mit seiner unverwüstlichen Stimme das Publikum für sich. Sein Spiel ist nicht sehr abwechslungsreich, aber dafür sehr konsequent durchgehalten. D.h. sein Siegfried ist recht eindimensional und durchlebt bis auf sein Ende keine nennenswerten Entwicklungen. Anja Kampe hatte mit stimmlichen Problemen zu kämpfen. Ihr hohes Register ist nicht allzu ausgeglichen. Viele kräftige Spitzentöne waren prekär, vor allem im letzten Aufzug von Siegfried. Etliche Sänger traten in dieser Produktion in mehreren Partien auf, Mika Kares sogar in drei Rollen (Fasolt; Hunding; Hagen), die er gesanglich und darstellerisch souverän bewältigte und voneinander absetzte. Seine in sich ruhende Erscheinung auf der Bühne sowie seine mimisch und sprecherisch sehr deutliche und musikalisch makellose Darbietung aller Partien wurden vom Publikum gefeiert. Nicht alle Sänger sind jedoch musikalisch derart herausragend. Robert Watson (Siegmund) und Lauri Vasar (Donner; Gunther) spielten ihre Rollen zwar mehr als passabel, haben aber nicht das stimmliche Material, um gegen das großbesetzte Ring-Orchester bestehen zu können. Geteilt waren die Meinungen über Rolando Villazóns Leistung als Loge, dessen Stimme ihre Strahlkraft eingebüßt hat. Was bei ihm und fast allen anderen Sängern hingegen positiv auffiel, war die gute Textaussprache und die Arbeit mit den Wörtern des Gesangstextes. Man verstand nicht nur den Text der tiefen, sondern auch den er hohen Stimmen sehr gut. Daß es, etwa im letzten Aufzug der Walküre, mitunter zu Aussetzern und Varianten kam, sei den Sängern, die wie Volle oder Kampe eine riesige Masse an Text zu memorieren und innerhalb weniger Tage wiederzugeben haben, nachgesehen. Volles Text- und Stimmbehandlung bildet im übrigen eine Klasse für sich. Er nuancierte seinen Vortrag über Stimmklang und -volumen ständig, was ihm einen recht sprechnahen Ausdruck verleiht, und es gab trotz seines langen Parts nirgendwo Anzeichen von Erschöpfung.

Vom Publikum gefeiert wurden neben einzelnen Sängern aber an jedem Abend die Staatskapelle Berlin und ihr Dirigent, und das vollkommen zu Recht. Zwar ist unklar, auf wieviel Vorarbeit Thielemann aufbauen konnte, als er das Dirigat übernahm – es dürfte schon ein wesentlicher Teil dessen gewesen sein, was an diesen vier Abenden gut gelang –, doch setzte er unverkennbar seine individuelle Note in Gestalt der großen Kontraste in der Lautstärke und des gedehnten Tempos. Das Zusammenspiel mit den Sängern funktionierte meistens, auch wenn seine Tempowahl – in der letzten Szene von Siegfried etwa – den Sängern phasenweise Mühe bereitete.

Fazit

Wohl selten war während einer Aufführung des Rings so viel Gelächter im Publikum zu hören, das sich aber weder gegen das Werk noch die Inszenierung richtete. In diesem Punkt wie auch hinsichtlich der packenden Personenregie bewies das Regieteam das richtige Gespür für Timing und Aktion. Daß die Geschichte, die erzählt wird, nicht restlos schlüssig und das Ambiente, eine Menschenversuchsanstalt, visuell karg und dystopisch ist, wird etliche Zuschauer sicherlich stören. Es gibt keine schönen oder gar erhabenen Bilder. Wem die Idee mißfällt, die Charaktere in Wagners Hauptwerk als psychologische Testobjekte mit handfesten Problemen und Traumata darzustellen, sollte von einem Besuch der Staatsoper absehen. Wer darüber hinwegsehen kann, bekommt eine musikalisch starke und darstellerisch herausragende Interpretation des Rings geboten, die im wesentlichen funktioniert, weil die Musik diejenigen Leerstellen ausfüllt, die die nicht stattfindenden Aktionen und ausbleibenden szenischen Effekte entstehen lassen. Die Frage ist jedoch, ob sie das auch täte, wenn die Qualität der musikalischen Darbietung nur ein wenig schlechter wäre.

Dr. Martin Knust

Bild: Monika Rittershaus

Das Bild zeigt: Das Rheingold: Claudia Mahnke (Fricka), Michael Volle (Wotan)

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