ATYS – Paris, Opéra Comique

von Jean Baptiste Lully (1632-1687), (Tragédie en Musique in einem Prolog und fünf Akten, Libretto: Philippe Quinault, Gedicht-Text nach Ovid, UA: Saint Germain-en-Laye, 10. Januar 1676

Regie: Jean-Marie Villégier, Regieberater: Christophe Galland, Bühne: Carlo Tommasi, Kostüme: Patrice Cauchetier, Licht: Patrick Méeüs, Perücken: Daniel Blanc, Choreographie: Francine Lancelot/Béatrice Massin

Dirigent: William Christie, Chor und Orchester Les Arts Florissants

Solisten: Bernard Richter (Atys), Stéphanie d’Oustrac (Cybele), Emmanuelle de Negri (Sangaride), Nicolas Rivenq (Celenus), Marc Mauillon (Idas), Sophie Daneman (Doris), Joël Azzaretti (Melisse), Paul Agnew (Schlafgott), Cyril Auvity (Morpheus) u.a., die Compagnie Fêtes Galantes (Tänzer)

Besuchte Aufführung: 13. Mai 2011 (Premiere)

Kurzinhalt

Wie jede von Lullys Opern beginnt auch Atys mit einem von der Handlung unabhängigen Huldigungsprolog an den König. Ihm folgt die Tragödie, in der zum ersten Mal in einer französischen Oper der Held auf der Bühne stirbt.

Atys gibt vor, nicht lieben zu wollen, verliebt sich dann aber doch in Sangaride, die aber mit Celenus, dem König der Phrygier, verlobt ist. Auch Sangaride liebt Atys. Doch auch die Göttin Cybele hat ein verliebtes Auge auf Atys geworfen und ist bereit, ihn mächtig zu machen. Als Atys bei seiner Liebe bleibt und Sangaride entführt, trifft ihn der Göttin Rachestrahl in Form von geistiger Umnachtung, in der er Sangaride für ein Ungeheuer hält und tötet. Wieder zu sich gekommen, gibt er sich selbst den Tod. Cybele erkennt, daß ihre Rache zu weit gegangen ist und verwandelt den toten Atys in eine Kiefer, um ihn auf diese Weise unsterblich zu machen.

Vorbemerkung

Wir sind weit entfernt  vom Spätbarock, von Vivaldis oder Händels italienischen Opern mit ihren Melismen und Da-Capo-Arien. Für die erhaben-formelle, pompöse Hofhaltung Ludwigs XIV., in der alles Geschehen auf die Majestät des Sonnenkönigs als absoluter Mittelpunkt ausgerichtet ist, nimmt auch die französische Oper, die als solche erst Lully schuf, die Form einer streng und schmucklos gesungenen Deklamation eines dramatischen Huldigungsgedichts an. Dichtung, Verse sind dabei von ebenso großer Bedeutung, wie die Musik. Und die Musik Lullys ist wie gemeißelt, präzise durchdacht, streng im Stil, schmucklos monumental (Hans Renner). Die schlichten, liedartigen Rezitative ohne jegliche Koloraturen, welche die Handlung tragen, treten umso stärker hervor, als sie nur von Cembalo, Laute und Violoncello begleitet sind. Auflockernd wirken die Instrumental-Ritornelle, die großen Ensembleszenen mit Chor und die unentbehrlichen Tanzeinlagen, bei denen dann auch das Orchester in voller Besetzung (Streicher und Holzbläser) hörbar wird.

Die Kunst William Christies bestand darin, diese dem Anschein nach zeremoniell und steif erscheinende Oper, in ein äußerst lebendiges, sinnenfreudiges Gesamtkunstwerk verwandelt zu haben, das uns auch heute noch anspricht und fasziniert, obwohl der ursprüngliche 335 Jahre zurückliegende strenge Königskult verlorengegangen ist. Es ist ihm gelungen, alle in der Musik vorhandenen Farben und Lebendigkeit aufzuspüren und mit seinem präzise spielenden Ensemble zum Ausdruck zu bringen.

Bei bewundernswert klarer Diktion und makellos reiner Stimmführung in der Deklamation, werden auch die Personen der Handlung lebendig, sie lieben, jubeln, toben, zweifeln und verzweifeln bis zum bitteren Ende der Tragödie:

Aufführung

Allen Kassandrarufen zum Trotz hatten William Christie und Jean-Marie Villégier mit ihren Mitarbeitern, zum 300. Todestag Lullys 1987eine epochemachende Atys- Produktion geschaffen. Diese inzwischen weltberühmte und legendäre gewordene Inszenierung ist heute noch einmal in neuer Frische aus der Taufe gehoben worden. Man hat das Gefühl, vom Sonnenkönig Ludwig XIV selbst auf einen Opernabend im Schloß Versailles geladen zu sein. Bis ins letzte Detail ausgearbeitet, aufersteht vor dem Auge des Zuschauers, in Bühnenbild (ein schwarz-weißer Marmorsaal), in den Kostümen (höfische schwarz-weißgraue oder gold- und silberglitzernde Prachtgewänder) und grau-weißen Allongeperücken, sogar in den von der Etikette vorgeschriebenen Bewegungen, die steife Pracht des Hofes von Versailles. Die Tänze, in ihrer nach langer Forschungsarbeit „rekonstruierten“ Choreographie, sind entweder höfisch zeremoniell und elegant (Courante, Gavotte, Menuett), oder unbeschwert fröhlich, wenn sie sich an Volkstänze oder an die Commedia dell’ Arte anlehnen.

Sänger und Orchester

Bernard Richter ist mit wohlklingendem samtenem Tenor ein jugendlicher, ewig unschlüssig-verwirrter Atys. Stephanie d’Oustracs herrlicher, vielseitiger Mezzo macht sie sowohl in den lyrischen Momenten (II. Akt, 3. Szene), wie auch in der dramatischen Racheszene (III. Akt, 1. Szene) mitreißend. Emmanuelle di Negri mit heller Sopranstimme als ruhelose Sangaride und Sophie Daneman mit etwas dunklerem Sopran als ihre Gefährtin Doris. Sehr reizvoll der Zwiegesang der beiden Sopranistinnen in un amour malheureux (I. Akt, 5. Szene). Nicolas Rivenq etwas steif-gebieterisch als Celenus, Marc Mauillon als Atys’ beflissener Gefährte und Joël Azzaretti als unbeschwerte Melisse seien noch erwähnt. Eine der bezauberndsten Momente der Oper durch seine lyrische Märchenhaftigkeit ist die Schlafszene, wunderschön gesungen von Paul Agnew (Gott des Schlafes) und seiner Gefolgschaft. Ein besonderes Lob verdienen sowohl der Chor der Arts Florissants wie auch die Tänzer der Compagnie Fêtes galantes.

Fazit

Wieder ist der Opéra Comique ein großer Wurf  gelungen: mit Hilfe eines amerikanischen Mäzens die einmalige Inszenierung dieser „opéra du roi“ noch einmal auf die Bühne gebracht zu haben. Das Premierenpublikum belohnte die Ausführenden mit anhaltendem, tosendem Applaus.

Alexander Jordis-Lohausen

Bild: Pierre Groslois

Das Bild zeigt: Bernard Richter (Atys) und davor liegend Paul Agnew (Gott des Schlafes)

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