Antikrist – Deutsche Oper Berlin

von Rued Langgaard (1893–1952), Kirchenoper in zwei Akten und sechs Bildern, Libretto vom Komponisten, UA: 1999 Innsbruck

Regie, Kostüme und Bühnenbild: Ersan Mondtag, Kostüme: Annika Lu Hermann, Licht: Rainer Casper, Choreographie: Rob Fordeyn, Spielleitung (und szenische Darstellung Die große Hure): Neil Barry Moss, Dramaturgie: Carolin Müller-Dohle und Lars Gebhardt

Dirigent: Stephan Zilias, Orchester der Deutschen Oper Berlin

Chor und Extrachor der Deutschen Oper Berlin, Einstudierung: Jeremy Bines

Solisten: Thomas Lehman (Luzifer; eine Stimme), Jonas Grundner-Culemann (Stimme Gottes), Valeriia Savinskaia (Das Echo der Rätselstimmung), Irene Roberts (die Rätselstimmung), Clemens Bieber (der Mund, der große Worte spricht), Gina Perregrino (der Mißmut), Regine Hangler (Sängerin Die große Hure), AJ Gleuckert (das Tier in Scharlach), Andrew Dickinson (die Lüge), Jordan Shanahan (der Haß), u.a.

Besuchte Aufführung: 11. Februar 2022

Kurzinhalt

Luzifer beschwört den Antichrist herauf, damit er sich den Menschen offenbaren soll. Die Rätselstimmung und ihr Echo bezeugen die Unsicherheit der Menschen, die vom Glauben abgefallen sind. Der Mund, der große Worte spricht, erklärt den Egoismus zum Lebensziel, der Mißmut zweifelt an jeglichem Lebenssinn. Die Dekadenz der Zeit verkörpert sich in der großen Hure, der das Tier in Scharlach sekundiert. Sie verfechten beide einen rücksichtslos triebhaften Lebensstil. Die Welt fällt in Anarchie, und die große Hure und die Lüge streiten darüber, wer von ihnen mächtiger sei. So wecken sie den Haß, dessen Erscheinen das Jüngste Gericht einleitet. Luzifer erklärt Gott für tot und beginnt, die Lebenden und die Toten zu richten. Gottes Stimme vernichtet den Antichrist und die Menschheit wird erlöst.

Aufführung

Die Inszenierung arbeitet mit starken visuellen Mitteln. Die Bühne sieht wie ein groteskes Comic gezeichnet aus. Auf einem Straßenzug bewegen sich über die gesamte Aufführung hinweg Tänzer und die Sänger in phantastischen Kostümen. Man bekommt eine Farben-Orgie geboten, die sich frei von religiösen Symbolen hält und historisch und geographisch im Unbestimmten bleibt. Der Antichrist, eine Sprechpartie, erscheint und verschwindet nackt aus der Handlung und wird als gigantische Skulptur vom Schnürboden herabgelassen. Beleuchtung und Szenerie verändern sich ständig und erzeugen einen mystischen Fluß der Bilder. Da die Orchesterbegleitung bei den Solopassagen des öfteren recht kompakt ist, singen die maskierten Sänger zumeist frontal ins Publikum hinein.

Sänger und Orchester

Text und Handlung dieser apokalyptischen „Kirchenoper“ – als solche vom Komponisten/Librettisten bezeichnet – sind rätselhaft, wozu die Musik ihren Teil beiträgt. Langgaard galt unter seinen Zeitgenossen als völliger Außenseiter, und seine einzige Oper wurde zu seinen Lebzeiten nicht aufgeführt. In der Partitur, die für ein relativ kleines Orchester geschrieben ist, treffen spätromantisch Wagnersche und neobarock polyphone Satztechnik aufeinander. Das bedeutet für die Sänger, daß sie einerseits harmonisch farbige, stark expressive und andererseits kontrapunktisch komplexe, fugierte Solopassagen zu bewältigen haben. Die parataktische, fast ohne Verben auskommende Diktion der Verse erschwert das Verständnis des gesungenen Textes. Über weite Strecken hat das Werk eher oratorische Züge, da es bis auf wenige Ausnahmen keine dramatischen Dialoge und Interaktion, sondern fast nur monologische „Nummern“ gibt. Der Inszenierung gelingt es jedoch, dramatischen Stillstand zu vermeiden. Aufgrund der Erkrankung der Sängerin der Großen Hure wurde die Rolle pantomimisch dargestellt und ihre Partie von der Seite von Regine Hangler gesungen, eine angesichts der kurzen Vorbereitungszeit beachtliche Leistung. Gesanglich und darstellerisch befanden sich alle Solisten auf dem gleichen hohen Niveau. Aufgrund ihrer das Gesicht verhüllenden Masken fiel die Mimik als darstellerisches Moment aus. Stattdessen ging es um Gebärden und Bewegung, um die Rollen zu charakterisieren, eine Aufgabe, in der sowohl AJ Gleuckert (das Tier in Scharlach) als auch Andrew Dickinson (die Lüge) und Jordan Shanahan (der Haß) voll aufgingen. Stimmlich ragten Gleuckert, Shanahan und Clemens Bieber (der Mund, der große Worte spricht) heraus, während Thomas Lehman (Luzifer; eine Stimme) bei seinen dick instrumentierten Passagen ab und zu vom Orchester verdeckt wurde. Die Orchestrierung dieses Werkes ist großartig; eine klangliche Überraschung, die ihre Herkunft aus Werken wie Parsifal oder Die Walküre oft deutlich erkennen läßt, folgt auf die nächste und die ekstatische, minimalistisch mahlende Bühnenmusik, die das fünfte Bild beschließt, setzte einen kraftvollen, individuellen Ton, der so in keiner anderen Oper zu hören ist. Stephan Zilias arbeitete mit dem Orchester viele schöne Nuancen aus dem Stück heraus und schaffte es, die fugierten Chorpassagen abwechslungsreich und dramatisch spannungsvoll zu gestalten.

Fazit

Man gerät bei dieser Ausgrabung einer Oper, die einen höchst eigenartigen, ja eigentümlichen musikalisch-dramatischen Kosmos schafft, und ihrer im höchsten Grade einfalls- und abwechslungsreichen Inszenierung in einen regelrechten szenisch-harmonischen Farbenrausch. Den Ausführenden scheint die Darbietung ihrer musikalischen und dramatischen Partien Freude zu machen. Daran hat die schrille Bildsprache, die den Text ironisch liest, ohne sich über ihn lächerlich zu machen, einen wichtigen Anteil. Man kann sie in ihrer Exzentrik und losen Assoziationstechnik als dem Werk ebenbürtig, also als wirklich kongenial bezeichnen. Werk und Produktion sind höchst kurzweilig und ergreifend zugleich.

Dr. Martin Knust

Bild: Thomas Aurin

Das Bild zeigt: Thomas Lehman (Luzifer; eine Stimme), Jonas Grundner-Culemann (Stimme Gottes)

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