Fortunio – Paris, Opéra-Comique

von André Messager (1853-1929) Comédie-lyrique in 5 Akten, Libretto: Gaston Armand de Caillavet und Robert de Fler nach der Komödie Le Chandelier (Kerzenständer) von Louis Charles Alfred de Musset (1835), UA: 5 Juni 1907 Paris, Opéra-Comique, Salle Favart

Regie: Denis Podalydès, Bühne: Éric Ruf, Kostüme: Christian Lacroix, Licht Stéphanie Daniel, Choreinstudierung: Joël Suhubiette, Kinder der Maîtrise Populaire de l’Opéra Comique : Malcolm Namgyal, Suzanne Laurens

Dirigent: Louis Langrée, Orchestre des Champs-Élysées, Chor: Choeur les éléments

Solisten: Franck Leguérinel (Meister André), Anne-Catherine Gillet (Jacqueline, seine Frau), Jean-Sébastien Bou (Clavaroche), Cyrille Dubois (Fortunio), Philippe-Nicolas Martin (Landry), Pierre Derhet (Lieutenant d’Azincourt), Thomas Dear, (Lieutenant de Verbois), Aliénor Feix (Madelon), Luc Bertin-Hugault (Maître Subtil, Fortunios Onkel), Geoffroy Buffière (Guillaume), Sarah Jouffroy (Gertrude), Laurent Podalydès (Komödiant), Enfants Maîtrise Populaire (Singschule) de l’Opéra-Comique: Malcolm Namgyal, Suzanne Laurens

Eine Produktion der Opéra-Comique, Koproduktion mit der Opéra National de Lorraine Nancy

Wiederholung der Aufführung von 2009

Besuchte Aufführung: 12. Dezember 2019 (Premiere)

Vorbemerkung

Selten – so scheint es mir – ist die Vorbemerkung für eine Oper gerechtfertigter als bei dieser Comédie-lyrique. Sie ist ein „Gewächs“ dieser Zeit, der Belle Epoche. Diese prägt sie. Wir befinden uns in den Jahren 1880 bis1918, also – wie man zu sagen pflegt – in der guten alten Zeit. Der Komponist André Messager ist in Deutschland nahezu unbekannt. Eng hängt das mit den ziemlich andersartigen französischen Lebensumständen der Gesellschaft und ihrer Metropole Paris zusammen. Hinzu kommen die Zeitumstände kurz nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/1871 und die vielen technischen Erneuerungen. Denken Sie nur an die elektrischen Straßenbahnen oder das Aufkommen der Fahrräder, den Beginn der Metro usw. Insgesamt war es eine Zeit großen technischen Fortschritts. Das Aufkommen des elektrischen Lichts gestaltete die Theaterlandschaft völlig um. Vergegenwärtigen Sie sich auch die Salons oder die eleganten Cafés. Heute noch zehrt unsere Zeit von den umfassenden Umgestaltungen von Paris des Barons Hausmann mit den prächtigen, breiten Boulevards! Die Oper, das Palais Garnier (Charles Garnier, 1825-1898), wurde mit einer eigenen Avenue de l’Opéra mit dem Louvre und der Comédie Française verbunden. Gustave Eiffel baute die Tour Eiffel (1889), was Proteste aus den Reihen der Literaten hervorrief.

Im Straßenbild dominierten unzählige Kutschen, aus denen Damen mit langen Kleidern und eingeschnürten Schnürleibern und versehen mit riesigen Hüten aussteigen, begleitet von Männern mit schmucken Kragenmänteln, auf dem Kopf Zylinder oder Melone, im Auge das obligate Monokel. Ihr Besuch gilt einem der zahlreichen Theater oder der prächtigen Oper.

Das war der Boden zur Entfaltung der Theater, der Oper und anderer Etablissements. In ihren luxuriös prachtvollen Interieurs amüsierten sich die vergnügungssüchtige frohgemute Gesellschaft der Hauptstadt bei Possen, Tragödien oder Operetten eines Jacques Offenbach.

Diese Epoche war nicht nur auffallend durch die verrücktesten Moden, sondern auch überreich gesegnet mit großen Künstlern auf allen Gebieten.

In der Malerei wurde der Impressionismus eines Edouard Manet, Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Pierre-Auguste Renoir u.v.a. durch Ausstellungen bekannt und berühmt. In der Literatur erscheinen die Namen von Paul Verlaine, Arthur Rimbaud oder Stéphane Mallarmé. Auf Seiten der Musik sind es Maurice Ravel (Daphne et Chloé), Igor Strawinsky (Sacre du printemps), Claude Debussy (L’après-midi d’un faune) und als große Neuerung die Ballets Russes mit dem genialen Intendanten Sergei Diaghilev. Man könnte endlos fortfahren.

In diesem Milieu von Mode, Technik und Theater wurde am 5. Juni 1907 die Oper Fortunio von André Messager in der Opera-Comique an der Place Boieldieux aufgeführt. Daß diese lyrische Komödie alles enthält, was die Pariser Zuschauer schätzten: dramatischen Rhythmus und leicht dahinfließenden Melodien, begleitet mit Delikatesse eines Orchesters, das alles an Clarté (etwa Klarheit, Deutlichkeit, Transparenz), enthält. André Messager wurde damals wie heute bejubelt. Seine Librettisten entnahmen den Stoff der Komödie Le ChandelierDer Kerzenhalter von Louis Charles Alfred de Musset (1810-1857).

Kurzinhalt

Fortunio erhält durch seinen Onkel, Meister Subtil, eine Stelle als Schreiber bei Maître André. Zunächst ist er eher abgeneigt, die Stelle anzutreten, bis er Jacqueline, Maître Andrés Frau, kennenlernt. Doch auch Clavaroche, der neue Capitaine der Garnison findet die schöne Jacqueline attraktiv und macht ihr elegante Avancen, daß diese alsbald sein Anerbieten annimmt.

Um Maître Andrés aufkommenden Verdachts zu begegnen, engagieren Clavaroche und Jacqueline einen Chandalier (Kerzenhalter „Strohmann“), der Maître André irreführen soll. Die Rolle des Chandeliers übernimmt Fortunio gern, denn er ist von Jacquelines Schönheit fasziniert und will ihr stets zur Seite sein. Er schwört ihr Treue bis zum Tod. Doch bald erkennt Fortunio das intrigante Spiel.

Aber Maître André schöpft neuen Verdacht. Er plant daher zusammen mit Clavaroche eine tödliche Falle für den unbekannten Liebhaber (Chandelier). Obwohl Jacqueline Fortunio warnt, will dieser sich dem Hinterhalt stellen. Jacqueline erkennt, daß sich Fortunio, obwohl er das Doppelspiel durchschaut hat, für ihn opfern will. Sie versteckt ihn vor ihrem Mann und ihrem Liebhaber, um ihm endlich in die Arme fallen zu können.

Aufführung

Man blickt auf einen Boule Spielplatz vorne auf der rechten Bühnenseite. Drumherum sieht man entlaubte Bäume, es ist Winter mit leichtem Schneefall. Nacheinander treten die Protagonisten auf. Sie sind gekleidet nach der Mode im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts: die Männer in langen Mäntel. Die Frauen mit langwallenden Röcken. Die Damen tragen Hütchen oder ausladende Hüte, die meist mit Blumen besetzt sind. Die Herren haben alle mit Melone auf dem Kopf. Doch Fortunio ist barhäuptig. Die Soldaten und Offizier haben ein dunkelblaues Oberteil mit breiten Schulterklappen, besetzt mit goldenen Knöpfen, einen breiten Ledergürtel und rote lange Hosen mit seitlichem Zierstreifen für den Offizier. Jacqueline zeigt sich in verschiedenen Roben: mal ist es ein elegantes blaues Ausgehkleid, mal ein rotes Gewand mit vielen Rüschen. Dann wieder sieht man sie im Schlafzimmer, das oft die Szene abgibt, im weißen langen Nachthemd, manchmal hat sie darüber einen geblümten Morgenrock. Auch Fortunio erscheint zu Anfang mit langem Mantel, später im adretten Anzug mit Krawatte. Die Bühne ist in den einzelnen Akten abwechslungsreich und unterstreicht die Szenen. Keine „Einheitsbühne“ wie allzuoft in Deutschland mit der häufigen Angabe, so würde das Bühnenbild (?!) die Handlung weniger „ablenken“ (mir gegenüber geäußerten persönliche Informationen von Regisseuren).

Sänger und Orchester

Das Orchester unter der engagierten Leitung von Louis Langrée begann mit hüpfenden Rhythmen. Es beschreibt und unterstreicht durch flotte Tiraden ein Boule Spiel auf dem Stadtplatz, ergänzt von aufmunternden Zurufen der Zuschauer. In die heitere ab- und anschwellende Musik fügen sich die Sängerinnen und Sänger auf hohem Niveau ein. Es ist eine beschwingte, sublime Musik, die in der Form an Richard Wagners Opernstil erinnert. André Messager war zeitlebens ein Anhänger und Bewunderer des Bayreuther Meisters, dem er, als einer der ersten Franzosen, in der fränkischen Stadt bei den Festspielen das eine oder das andere Mal einen Besuch abstattete.

Einiges der Musik fällt in Form und Gestaltung auf. Zum Beispiel die Fuge zu Beginn des dritten Akts, die aus der Feder seines Lehrers Eugène Gigout stammen könnte. Dieser war sein Orgellehrer, denn man sollte wissen, daß André Messager selbst als Organist an einer der großen städtischen Kirchen einige Zeit angestellt war. Bei Charles-Marie Widor war er stellvertretender Organist in St. Sulpice.

Die Hauptfiguren seien kurz beschrieben.

Franck Leguérinels (Maître André) Tenor wird etwas kehlig geführt, doch durchaus männlich. Jean-Sébastien Bou (Clavaroche) zeigt eine gut fokussierte Tenorstimme, mit der er sich als stolzer Capitaine der schönen Jacqueline nähert und sie rasch zum tête à tête bringen kann.

Außerordentlich sympathisch und überzeugend erscheint Cyrille Dubois als Fortunio mit seinem Lied: Si vous croyez que je vais dire que j’ose aimer – wenn Sie denken, ich wagte zu lieben. (3. Akt, 4. Szene). Sein Bekenntnis äußert er innig mit lyrischem Stimme.

Seine Partnerin ist Anne-Catherine Gillet (Jacqueline). Sie vermittelt – ähnlich Fortunio – eine große Innigkeit beim Singen. Sie besinnt sich auf ihr fatales Verhalten dem liebenswürdigen Fortunio gegenüber: Je ne vois rien … tout est sombre und später: une femme au cœur indécis, je n’ai pas su, dans ma faiblesse, choisir l’amour le mieux aimant, le plus charmant et la plus pure des tendresses … – ich sehe nichts, alles ist so dunkel und später: und nun, da ich eine Frau mit einem unentschlossenen Herzen bin, konnte ich in meiner Schwäche nicht die liebevollste, edelste, charmanteste und reinste aller Zärtlichkeiten wählen.

Man hört aus ihrem Singen Angst und Hoffnung zugleich heraus. Selbst in mittlerer Höhe zeigt ihr Sopran einen leuchtenden Glanz, den ich nur von Patricia Petibon kenne. Alles trägt sie mit unbeschreiblicher Innigkeit und Ruhe vor, wobei die Leuchtkraft ihrer Stimme allem einen immensen Glanz verleiht.

Fazit

Nicht allzuoft wird die Liebesgeschichte ans Ende einer Oper gesetzt. Hier erlebte man durch die logisch geführte Regie mit adäquaten Kulissen und Gewändern einen ungemein stimmigen Opernabend. Er löscht aus der Erinnerung soundso viele nicht gelungene Aufführungen mit mildem Glanz! Dank an die Regie, die Bühnen- und Kostümgestaltern. Diese erhielten auch beim langen Schlußapplaus ein extra Lob. Wo erlebt man so etwas noch? Allen Sängerinnen und Sängern sei Dank, welches auch das kenntnisreiche Publikum durch marschartiges, rhythmisches Klatschen bestätigte.

Dr. Olaf Zenner

Bild: DR Stefan Brion

Das Bild zeigt: Anne-Catherine Gillet (Jacqueline), Cyrille Dubois (Fortunio)

 

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