Carmen – Baden-Baden, Festspielhaus

von Georges Bizet (1838-1875), Opera comique in vier Akten, Libretto: Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der Novelle Carmen von Prosper Mérimée
Regie: Philippe Arlaud, Kostüme: Andrea Uhmann, Videodesign: screenpix
Dirigent: Teodor Currentzis, Balthasar-Neumann-Ensemble, Balthasar-Neumann-Chor, Petits Chanteurs de Strasbourg/Maîtrise de l’Opéra national du Rhin
Solisten: Rinat Shaham (Carmen), Nikolai Schukoff (Don José), Marina Rebeka (Micaëla), Michael Nagy (Escamillo), Michael Vier (Dancaïre), James Elliott (Remendado), Jean-Marc Salzmann (Zuniga), Roman Grübner (Moralés), Katherina Müller (Frasquita), Christina Daletska (Mercédès), Philippe Ermelier (Lillas Pastia)
Besuchte Aufführung: 22. Mai 2010 (Premiere)

Kurzinhalt
Die Mutter des Brigadiers Don José wünscht eine Heirat ihres Sohnes mit ihrer Ziehtochter Micaëla. Don José ist allerdings der Zigeunerin Carmen verfallen, die zu einer Schmugglerbande in der Gegend gehört. José hatte ihr nach einem von Carmen begonnenen Streit in der Zigarrenfabrik zur Flucht verholfen und mußte deswegen selbst ins Gefängnis. Er löst danach die Verlobung mit Micaëla und schließt sich den Zigeunern an. Bevor Josè aus dem Gefängnis entlassen wird, machte Carmen Bekanntschaft mit dem Stierkämpfer Escamillo, was Don Josès Eifersucht weckt. Nachdem seine sterbende Mutter ihn zu sich bat, kehrt er nach Sevilla zurück, und tötet am Rande eines Stierkampfes Carmen aus Eifersucht.
Aufführung
Zu Beginn findet sich der Zuschauer vor einem Aquarium wieder. Ein toter Stier sinkt langsam auf den Grund hinab. Wieder einmal erlebt man die Handlung aus der Erzählung Don Josés. Dieser wartet mit verbundenen Augen auf die Erschießung durch seine einstigen Kameraden. Im Hintergrund sind maurische Tor- und Fensterlaibungen angedeutet. In Feinheiten zeigt sich die ungeschönte Realität Spaniens zur Zeit Bizets (?): Bei Micaëlas anfänglicher Suche nach Don José setzt Moralès zur Masturbation an. Kurz später sieht man unter den Zigarettenarbeiterinnen eine rauchende Schwangere. Anderes bleibt unklar: In der ersten Begegnung sind Micaëla und Don José durch ein Gefängnisgitter getrennt. Anfang des dritten Aktes prozessiert ein Leichenzug über die Bühne, zu einem Zeitpunkt, als Don Josés Mutter noch am Leben ist. Im dritten Akt ist  eine rauhe Felsenlandschaft zu sehen, in der stark angetrunkene Zigeunerinnen ihre Karten legen. Kurz darauf tritt Micaëla bei ihrer Arie ganz in weiß mit einem Andachtsbild im Arm vor einem schwarzen Sternenhimmel auf.
Sänger und Orchester
Unter der Leitung von Teodor Currentzis blühte das Balthasar-Neumann-Ensemble bereits in der Ouvertüre zu Glanzleistungen auf. Besonders die Streicher zeigten sich im Torero-Abschnitt (Toréador) dynamisch sehr beweglich. Die Petits Chanteurs de Strasbourg machten ihrem Namen alle Ehre: Der sauber intonierende Kinderchor beschrieb die Wachablösung in klarstem Französisch. Nikolai Schukoff (Don José) wirkte im ersten Akt, besonders im ersten Duett mit Micaëla Parle-moi de ma mere – Erzähle mir von meiner Mutter, blaß und ausdruckslos. Desto mehr überraschte sein Pathos im Finale, wo Zerrissenheit und Verzweiflung stimmlich selten so hinreißend zur Geltung kommen. Vor allem in der Höhe glänzte er mit langem und sicherem Atem! Rinat Shaham (Carmen) versuchte noch zu Beginn in der Habanera, eventuelle Schärfen der Spitzentöne abzudämpfen. Im zweiten Akt kam dann ihre ganze Farbenpalette zur Geltung: Das Timbre war dunkel, zugleich stets leicht und verspielt – kann man sich von einer Carmen mehr wünschen? Marina Rebeka (Micaëla) war das Gegenteil: hell, strahlend und schuldlos erklang ihr Je dis que rien me n’épouvante – Ich sage, daß mich nichts erschreckt, vom Publikum mit tosendem Applaus goutiert. Michael Nagy (Escamillo) machte mit seinem sonoren Bariton in ganzer Hinsicht den Eindruck eines prahlerischen Stierkämpfers. Im Ensembleschluß L’amour t’attend – Die Liebe erwartet dich mit den Soli von Katherina Müller (Frasquita) und Christina Daletska (Mércédès) traf auch auf stimmlicher Ebene weibliche Koketterie auf eine übergroße Dosis Testosteron. Durchweg fand sich eine fein ausgearbeitete Musikalität.
Fazit
Meist  suchte die Inszenierung einen Mittelweg zwischen Aktualität und Werktreue. Es handelte sich um eine Inszenierung, die an mancher Stelle mitfühlte, anderwärts aber irritierte.

Eine vor allem musikalisch höchst lobenswerte Produktion, die sich wegen zweier Pausen bis in den späten Abend zog. Die glückliche Wahl der Solisten und ein spannungsgeladenes Musizieren verlieh dieser Carmen eine besondere Note. Das Programmheft erklärt umfassend und strukturiert die dramaturgischen Aspekte der Oper und das Dilemma der Darstellung in unserer heutigen Zeit – eine Aufarbeitung, die man andernorts vergeblich sucht.

Daniel Rilling

Bild: Andrea Kremper
Das Bild zeigt Rinat Shaham (Carmen), Männerchor und Michael Nagy (Escamillo)

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